Bertolt Brecht

Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit

Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List sie unter diesen zu verbreiten. Diese Schwierigkeiten sind gross für die unter dem Faschismus Schreibenden, sie bestehen aber auch für die, welche verjagt wurden oder geflohen sind, ja sogar für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben.

1. Der Mut, die Wahrheit zu schreiben

Es erscheint selbstverständlich, daß der Schreibende die Wahrheit schreiben soll in dem Sinn, daß er sie nicht unterdrücken oder verschweigen und daß er nichts Unwahres schreiben soll. Er soll sich nicht den Mächtigen beugen, er soll die Schwachen nicht betrügen. Natürlich ist es sehr schwer, sich den Mächtigen nicht zu beugen und sehr vorteilhaft, die Schwachen zu betrügen. Den Besitzenden missfallen, heisst dem Besitz entsagen. Auf die Bezahlung für geleistete Arbeit verzichten, heisst unter Umständen, auf das Arbeiten verzichten und den Ruhm bei den Mächtigen ausschlagen, heisst oft, überhaupt Ruhm ausschlagen. Dazu ist Mut nötig. Die Zeiten der äussersten Unterdrückung sind meist Zeiten, wo viel von grossen und hohen Dingen die Rede ist.

Es ist Mut nötig, zu solchen Zeiten von so niedrigen und kleinen Dingen wie dem Essen und Wohnen der Arbeitenden zu sprechen, mitten in einem gewaltigen Geschrei, daß Opfersinn die Hauptsache sei. Wenn die Bauern mit Ehrungen überschüttet werden, ist es mutig, von Maschinen und billigen Futtermitteln zu sprechen, die ihre geehrte Arbeit erleichtern würden. Wenn über alle Sender geschrieen wird, daß der Mann ohne Wissen und Bildung besser sei als der Wissende, dann ist es mutig, zu fragen: für wen besser? Wenn von vollkommenen und unvollkommenen Rassen die Rede ist, ist es mutig zu fragen, ob nicht der Hunger und die Unwissenheit und der Krieg schlimme Missbildungen hervorbringen. Ebenso ist Mut. nötig, um die Wahrheit über sich selber zu sagen, über sich, den Besiegten. Viele, die verfolgt werden, verlieren die Fähigkeit, ihre Fehler zu erkennen. Die Verfolgung scheint ihnen das grösste Unrecht. Die Verfolger sind, da sie ja verfolgen, die Bösartigen, sie, die Verfolgten, werden ihrer Güte wegen verfolgt. Aber diese Güte ist geschlagen worden, besiegt und verhindert worden und war also eine schwache Güte, eine schlechte, unhaltbare, unzuverlässige Güte; denn es geht nicht an, der Güte die Schwäche zuzubilligen, wie dem Regen seine Nässe.

Zu sagen, daß die Guten nicht besiegt wurden, weil sie gut, sondern weil sie schwach waren, dazu ist Mut nötig.

Natürlich muss die Wahrheit im Kampf mit der Unwahrheit geschrieben werden und sie darf nicht etwas Allgemeines, Hohes, Vieldeutiges sein. Von dieser allgemeinen, hohen, vieldeutigen Art ist ja gerade die Unwahrheit. Wenn von einem gesagt wird, er hat die Wahrheit gesagt, so haben zunächst einige oder viele oder einer etwas anderes gesagt, eine Lüge oder etwas Allgemeines, aber er hat die Wahrheit gesagt, etwas Praktisches, Tatsächliches, Unleugbares, das, um was es sich handelte.

Wenig Mut ist dazu nötig, über die Schlechtigkeit der Welt und den Triumph der Roheit im allgemeinen zu klagen und mit dem Triumphe des Geistes zu drohen, in einem Teile der Welt, wo dies noch erlaubt ist. Da treten viele auf, als seien Kanonen auf sie gerichtet, während nur Operngläser auf sie gerichtet sind. Sie schreien ihre allgemeinen Forderungen in eine Welt von Freunden harmloser Leute. Sie verlangen eine allgemeine Gerechtigkeit, für die sie niemals etwas getan haben, und eine allgemeine Freiheit , einen Teil von der Beute zu bekommen, die lange mit ihnen geteilt wurde. Sie halten für Wahrheit nur, was schön klingt. Ist die Wahrheit etwas Zahlenmässiges, Trockenes, Faktisches, etwas, was zu finden Mühe macht und Studium verlangt, dann ist es keine Wahrheit für sie, nichts was sie in Rausch versetzt. Sie haben nur das äussere Gehaben derer, die die Wahrheit sagen. Das Elend mit ihnen ist: sie wissen die Wahrheit nicht.

2. Die Klugheit, die Wahrheit zu erkennen

Da es schwierig ist, die Wahrheit zu schreiben,. weil sie allenthalben unterdrückt wird, scheint es den meisten eine Gesinnungsfrage, ob die Wahrheit geschrieben wird oder nicht. Sie glauben, dazu ist nur Mut nötig Sie vergessen die zweite Schwierigkeit, die der Wahrheitsfindung. Keine Rede kann davon sein, daß es leicht sei, die Wahrheit zu finden.

Zunächst einmal ist es schon nicht leicht, ausfindig zu machen, weiche Wahrheit zu sagen sich lohnt. So versinkt z.B. jetzt, sichtbar vor aller Welt, einer der grossen zivilisierten Staaten nach dem andern in die äusserste Barbarei. Zudem weiss jeder, daß der innere Krieg, der mit den furchtbarsten Mitteln geführt wird, jeden Tag in den äussern sich verwandeln kann, der unsern Weltteil vielleicht als einen Trümmerhaufen hinterlassen wird. Das ist zweifellos eine Wahrheit, aber es gibt natürlich noch mehr Wahrheiten. So ist es z. B. nicht unwahr, daß Stühle Sitzflächen haben und der Regen von oben nach unten fällt. Viele Dichter schreiben Wahrheiten dieser Art. Sie gleichen Malern, die die Wände untergehender Schiffe mit Stilleben bedecken.

Unsere erste Schwierigkeit besteht nicht für sie, und doch haben sie ein gutes Gewissen. Unbeirrbar durch die Mächtigen, aber auch durch die Schreie der Vergewaltigten nicht beirrt, pinseln sie ihre Bilder. Das Unsinnige ihrer Handlungsweise erzeugt in ihnen selber einen "tiefen" Pessimismus, den sie zu guten Preisen verkaufen und der eigentlich eher für andere angesichts dieser Meister und dieser Verkäufe berechtigt wäre. Dabei ist es nicht einmal leicht zu erkennen, daß ihre Wahrheiten solche über Stühle oder den Regeln sind, sie klingen für gewöhnlich ganz anders, so wie Wahrheiten über wichtige Dinge. Denn die künstlerische Gestaltung besteht ja gerade darin, einer Sache Wichtigkeit zu verleihen.

Erst bei genauem Hinsehen erkennt man, daß sie nur sagen: ein Stuhl ist in Stuhl und niemand kann etwas dagegen "machen" daß der Regen nach unten fällt.

Diese Leute finden nicht die Wahrheit, die zu schreiben sich lohnt. Andere wieder beschäftigen sich wirklich mit den dringendsten Aufgaben, fürchten die Machthaber und die Armut nicht, können aber dennoch die Wahrheit nicht finden. Ihnen fehlt es an Kenntnissen. Sie sind voll von altem Aberglauben, von berühmten und in alter Zeit oft schön geformten Vorurteilen. Die Welt ist zu verwickelt für sie, sie kennen nicht die Fakten und sehen nicht die Zusammenhänge. Ausser der Gesinnung sind erwerbbare Kenntnisse nötig und erlernbare Methoden. Nötig ist für alle Schreibenden in dieser Zeit der Verwicklungen und der grossen Veränderungen eine Kenntnis der materialistischen Dialektik, der Oekonomie und der Geschichte. Sie ist aus Büchern und durch praktische Anleitung erwerbbar, wenn der nötige Fleiss vorhanden ist.

Man kann viele Wahrheiten aufdecken auf einfachere Weise, Teile der Wahrheit oder Sachbestände, die zum Finden der Wahrheit führen. Wenn man suchen will, ist eine Methode gut, aber man kann auch finden ohne Methode, ja sogar ohne zu suchen. Aber man erreicht, auf so zufällige Art, kaum eine solche Darstellung der Wahrheit, daß die Menschen auf Grund dieser Darstellung wissen, wie sie handeln sollten. Leute, die nur kleine Fakten niederschreiben, sind. nicht imstande, die Dinge dieser Welt handhabbar zu machen. Aber die Wahrheit hat nur diesen Zweck, keinen andern. Diese Leute sind der Forderung, die Wahrheit zu schreiben, nicht gewachsen.

Wenn jemand bereit ist die Wahrheit zu schreiben und fähig, sie zu erkennen, bleiben noch drei Schwierigkeiten übrig.

3. Die Kunst, die Wahrheit handhabbar zu machen als eine Waffe

Die Wahrheit muss der Folgerungen wegen gesagt werden, die sich aus ihr für das Verhalten ergeben. Als Beispiel für eine Wahrheit, aus der keine Folgerungen oder falsche Folgerungen gezogen werden können, soll uns die weitverbreitete Auffassung dienen, daß in einigen Ländern schlimme Zustände herrschen, die von der Barbarei herrühren. Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine Welle von Barbarei, die mit Naturgewalt über einige Länder hereingebrochen ist.

Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine neue dritte Macht neben (und über) Kapitalismus und Sozialismus; nicht nur die sozialistische Bewegung, sondern auch der Kapitalismus hätte nach ihr ohne den Faschismus weiter bestehen können usw. Das ist natürlich eine faschistische Behauptung, eine Kapitulation vor dem Faschismus. Der Faschismus ist eine historische Phase, in die der Kapitalismus eingetreten ist, insofern etwas neues und zugleich altes. Der Kapitalismus existiert in den faschistischen Ländern nur noch als Faschismus und der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus.

Wie will nun jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen, gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt? Wie soll da seine Wahrheit praktikabel ausfallen?

Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden. Sie wollen das Kalb essen, aber das Blut nicht sehen. Sie sind zufriedenzustellen, wenn der Metzger die Hände wäscht, bevor er das Fleisch aufträgt. Sie sind nicht gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die Barbarei. Sie erheben ihre Stimme gegen die Barbarei und sie tun das in Ländern, in denen die gleichen Besitzverhältnisse herrschen, wo aber die Metzger noch die Hände waschen, bevor sie das Fleisch auftragen.

Laute Beschuldigungen gegen barbarische Massnahmen mögen eine kurze Zeit wirken, solange die Zuhörer glauben, in ihren Ländern kämen solche Massnahmen nicht in Frage. Gewisse Länder sind imstande, ihre Eigentumsverhältnisse noch mit weniger gewalttätig wirkenden Mitteln aufrecht zu erhalten, als andere. Ihnen leistet die Demokratie noch die Dienste, zu welchen andere die Gewalt heranziehen müssen, nämlich die Garantie des Eigentums an Produktionsmitteln. Das Monopol auf die Fabriken, Gruben, Ländereien schafft überall barbarische Zustände; jedoch sind diese weniger sichtbar. Die Barbarei wird sichtbar, sobald das Monopol nur noch durch offene Gewalt geschützt werden kann.

Einige Länder, die es noch nicht nötig haben, der barbarischen Monopole wegen auch noch auf die formellen Garantien des Rechtsstaates, sowie solche Annehmlichkeiten wie Kunst, Philosophie, Literatur zu verzichten, hören besonders gern die Gäste, welche ihre Heimat wegen des Verzichtes auf solche Annehmlichkeiten beschuldigen, da sie davon Vorteile haben in den Kriegen, die erwartet werden. Soll man da sagen, diejenigen hätten die Wahrheit erkannt , die da z.B. laut verlangen. unerbittlichen Kampf gegen Deutschland, "denn dieses ist die wahre Heimat des Bösen in dieser Zeit, die Filiale der Hölle, der Aufenthalt des Antichrist"? Man soll lieber sagen, es sind törichte, hilflose und schädliche Leute. Denn die Folgerung aus diesem Geschwätz ist, daß dieses Land ausgerottet werden soll. Das ganze Land mit allen seinen Menschen, denn das Giftgas sucht nicht die Schuldigen heraus, wenn es tötet.

Der leichtfertige Mensch, der die Wahrheit nicht weiss, drückt sich allgemein, hoch und ungenau aus. Es faselt von "den" Deutschen, er jammert über "das" Böse, und der Hörer weiss im besten Fall nicht was tun. Soll er beschliessen, kein Deutscher zu sein? Wird die Hölle verschwinden, wenn er gut ist? Auch das Gerede von der Barbarei, die von der Barbarei kommt, ist von dieser Art. Danach kommt die Barbarei von der Barbarei und hört auf durch die Gesittung, die von der Bildung kommt. Das ist alles ganz allgemein ausgedrückt, nicht der Folgerungen für das Handeln wegen und im Grunde niemandem gesagt.

Solche Darstellungen zeigen nur wenige Glieder der Ursachenreihe und stellen bestimmte bewegende Kräfte als unbeherrschbare Kräfte, hin. Solche Darstellungen enthalten viel Dunkel, das die Kräfte verbirgt, welche die Katastrophen bereiten. Etwas Licht, und es treten Menschen in Erscheinung als Verursacher der Katastrophen. Denn wir leben in einer Zeit, wo des Menschen Schicksal der Mensch ist.

Der Faschismus ist keine Naturkatastrophe, welche eben aus der "Natur" des Menschen begriffen werden kann. Aber selbst bei Naturkatastrophen gibt es Darstellungsweisen, die des Menschen würdig sind, weil Sie all seine Kampfkraft appellieren.

In vielen amerikanischen Zeitschriften könnte man nach einem grossen Erdbeben, das Jokohama zerstörte, Photographien sehen, welche ein Trümmerfeld zeigten. Darunter stand "steel stood" (Stahl blieb stehen) und wirklich, wer auf den ersten Blick nur Ruinen gesehen hatte, bemerkte nun, durch die Unterschrift darauf aufmerksam gemacht, daß einige hohe Gebäude stehen geblieben waren. Unter den Darstellungen, die man von einem Erdbeben geben kann, sind von unvergleichlicher Wichtigkeit diejenigen der Bauingenieure, welche die Verschiebungen des Bodens, die Kraft der Stösse, die sich entwickelnde Hitze usw. berücksichtigen und zu Konstruktionen führen, die dem Beben widerstehen. Wer den Faschismus und den Krieg, die grossen Katastrophen, welche keine Naturkatastrophen sind, beschreiben will, muss eine praktikable Wahrheit herstellen. Er muss zeigen, daß dies Katastrophen sind, die den riesigen Menschenmassen der ohne eigene Produktionsmittel Arbeitenden von den Besitzern dieser Mittel bereitet werden.

Wenn man erfolgreich die Wahrheit über schlimme Zustände schreiben will, muss man sie so schreiben, daß ihre vermeidbaren Ursachen erkannt werden können. Wenn die vermeidbaren Ursachen erkannt werden, können die schlimmen Zustände bekämpft werden.

4. Das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen die Wahrheit wirksam wird

Durch die jahrhundertlangen Gepflogenheiten des Handels mit Geschriebenem auf dem Markt der Meinungen und Schilderungen, dadurch, daß dem Schreibenden die Sorge um das Geschriebene abgenommen wurde, bekam der Schreibende den Eindruck, sein Kunde oder Besteller, der Mittelsmann gebe das Geschriebene an alle weiter. Er dachte: ich spreche, und die hören wollen, hören mich. In Wirklichkeit sprach er; und die zahlen konnten, hörten ihn. Sein Sprechen wurde nicht von allen gehört, und die es hörten, wollten nicht alles hören. Darüber ist viel, wenn auch noch zu wenig gesagt worden; ich will hier nur hervorheben, daß aus dem "Jemandem schreiben" ein "schreiben" geworden ist. Die Wahrheit aber kann man nicht eben schreiben; man muss sie durchaus jemandem schreiben, der damit etwas anfangen kann. Die Erkenntnis der Wahrheit ist ein den Schreibern und Lesern gemeinsamer Vorgang. Um Gutes zu sagen, muss man gut hören können und Gutes hören. Die Wahrheit muss mit Berechnung gesagt und mit Berechnung gehört werden. Und es ist für uns Schreibende wichtig, wem wir sie sagen und wer sie uns sagt.

Wir müssen die Wahrheit über die schlimmen Zustände denen sagen, für die die Zustände am schlimmsten sind, und wir müssen sie von ihnen erfahren. Nicht nur die Leute einer bestimmten Gesinnung muss man ansprechen, sondern die Leute, denen diese Gesinnung und Grund ihrer Lage anstünde. Und eure Hörer verwandeln sich fortwährend! Sogar die Henker sind sprechbar, wenn die Bezahlung für das Hängen nicht mehr einläuft oder die Gefahr zu gross wird. Die bayrischen Bauern waren gegen jeden Umsturz, aber als der Krieg lange genug gedauert hatte und die Söhne nach Hause kamen und keinen Platz mehr auf den Höfen fanden, waren sie für den Umsturz zu gewinnen.

Für die Schreibenden wichtig ist, daß sie den Ton der Wahrheit treffen. Für gewöhnlich hört man da einen sehr sanften, wehleidigen Ton, den von Leuten, die keiner Fliege weh tun können. Wer diesen Ton hört und im Elend ist, wird elender. So sprechen Leute, die vielleicht keine Feinde sind, aber bestimmt keine Mitkämpfer. Die Wahrheit ist etwas Kriegerisches, sie bekämpft nicht nur die Unwahrheit, sondern bestimmte Menschen, die sie verbreiten.

5. Die List, die Wahrheit unter vielen zu verbreiten

Viele, stolz darauf, daß sie den Mut zur Wahrheit haben, glücklich, sie gefunden zu haben, müde vielleicht von der Arbeit, die es kostet, sie in eine handhabbare Form zu bringen, ungeduldig wartend auf das Zugreifen derer, deren Interessen sie verteidigen, halten es nicht für nötig, nun auch noch besondere List bei der Verbreitung der Wahrheit anzuwenden. So kommen sie oft um die ganze Wirkung ihrer Arbeit. Zu allen Zeiten wurde zur Verbreitung der Wahrheit, wenn sie unterdrückt und verhüllt wurde, List angewandt. Konfutse fälschte einen alten patriotischen Geschichtskalender. Er veränderte nur gewisse Wörter. Wenn es hiess "Der Herrscher von Kun liess den Philosophen Wan töten, weil er das und das gesagt hatte" setzte KONFUTSE statt töten "ermorden". Hiess es, der Tyrann so und so sei durch ein Attentat umgekommen, setzte er "hingerichtet worden". Dadurch brach KONFUTSE einer neuen Beurteilung der Geschichte Bahn.

Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. Das Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet auf gemeinsame Interessen hin, sollte also nur benutzt werden, wenn von mehreren Völkern die Rede ist, da höchstens dann eine Gemeinsamkeit der Interessen vorstellbar ist. Die Bevölkerung eines Landstriches hat verschiedene, auch einander entgegengesetzte Interessen, und dies ist eine Wahrheit, die unterdrückt wird. So unterstützt auch, der Boden sagt und die Aecker den Nasen und Augen schildert, indem er von ihrem Erdgeruch und von ihrer Farbe spricht, die Lügen der Herrschenden; denn nicht auf die Fruchtbarkeit des Bodens kommt es an, noch auf die Liebe des Menschen zu ihm, noch auf den Fleiss, sondern hauptsächlich auf den Getreidepreis und den Preis der Arbeit.

Diejenigen, welche die Gewinne aus dem Boden ziehen, sind nicht jene, die aus ihm Getreide ziehen und der Schollengeruch des Bodens ist den Börsen unbekannt. Sie riechen nach anderem. Dagegen ist Landbesitz das richtige Wort; damit kann man weniger betrügen. Für das Wort Disziplin sollte man, wo Unterdrückung herrscht, das Wort Gehorsam wählen, weil Disziplin auch ohne Herrscher möglich ist und dadurch etwas Edleres an sich hat als Gehorsam. Und besser als das Wort Ehre ist das Wort Menschenwürde. Dabei verschwindet der einzelne nicht so leicht aus dem Gesichtsfeld. Weiss man doch, was für ein Gesindel sich herandrängt, die Ehre eines Volkes verteidigen zu dürfen! Und wie verschwenderisch verteilen die Satten Ehre an die welche sie sättigen, selber hungernd. Die List des KONFUTSE ist auch heute noch verwendbar. KONFUTSE ersetzte ungerechtfertige Beurteilungen nationaler, Vorgänge durch gerechtfertigte. Der Engländer THOMAS MORUS beschrieb in einer Utopie ein Land, in dem gerechte Zustände herrschten - es war ein sehr anderes Land, als das Land, in dem er lebte, aber es glich ihm sehr, bis auf die Zustände!

LENIN, von der Polizei des Zaren bedroht, wollte die Ausbeutung und Unterdrückung der Insel Sachalin durch die russische Bourgeoisie schildern. Er setzte Japan statt Russland und Korea statt Sachalin. Die Methoden der japanischen Bourgeoisie erinnerten alle Leser an die der russischen in Sachalin, aber die Schrift wurde nicht verboten, da Japan mit Russland verfeindet war. Vieles was in Deutschland über Deutschland nicht gesagt werden darf, darf über Oesterreich gesagt werden.

Es gibt vielerlei Listen, durch die man den argwöhnischen Staat täuschen kann.

VOLTAIRE bekämpfte den Wunderglauben der Kirche, indem er ein galantes Gedicht über die Jungfrau von Orleans schrieb. Er beschrieb die Wunder, die zweifellos geschehen sein mussten, damit JOHANNA in einer Armee und an einem Hof und unter Mönchen eine Jungfrau blieb.

Durch die Eleganz seines Stils und indem er erotische Abenteuer schilderte, die aus dem üppigen Leben der Herrschenden stammen, verlockte er diese, eine Religion preiszugeben, die ihnen die Mittel für dieses lockere Leben verschaffte. Ja, er schuf so die Möglichkeit, daß seine Arbeiten auf ungesetzlichen Wegen an die gelangten, für die sie bestimmt waren. Die Mächtigen seiner Leser förderten oder duldeten die Verbreitung. Sie gaben so die Polizei preis, die ihnen ihre Vergnügungen verteidigte. Und der grosse LUKREZ betont ausdrücklich, daß er sich für die Verbreitung des epikuräischen Atheismus viel von der Schönheit seiner Verse verspreche.

Tatsächlich kann ein hohes literarisches Niveau einer Aussage als Schutz dienen. Oft allerdings erweckt es auch Verdacht. Dann kann es sich darum handeln, daß man es absichtlich herabschraubt. Das geschieht z.B., wenn man in der verachteten Form des Kriminalromans an unauffälligen Stellen Schilderungen übler Zustände einschmuggelt. Solche Schilderungen würden einen Kriminalroman durchaus rechtfertigen. Der grosse SHAKESPEARE hat aus viel geringeren Erwägungen heraus das Niveau gesenkt, als er die Rede der Mutter Koriolans, mit der sie dem gegen die Vaterstadt ziehenden Sohn gegenübertritt, absichtlich kraftlos gestaltete er wollte, daß Koriolan nicht durch wirkliche Gründe oder durch eine tiefe Bewegung von seinem Plan abgehalten werden sollte, sondern durch eine gewisse Trägheit, mit der er sich einer alten Gewohnheit hingab.

Bei SHAKESPEARE finden wir auch ein Muster listig verbreiteter Wahrheit in der Rede des ANTONIUS an der Leiche des CÄSAR. Unaufhörlich betont er, das CÄSARs Mörder BRUTUS ein ehrenwerter Mann sei, aber er schildert auch seine Tat und die Schilderung dieser Tat ist eindrucksvoller als die ihres Urhebers; der Redner lässt sich so durch die Tatsachen selber besiegen; er verleiht ihnen eine grössere Beredtsamkeit selber. JONATHAN SWIFT schlug in einer Broschüre vor, man sollte, damit das Land zu Wohlstand gelange, die Kinder der Armen einpökeln und als Fleisch verkaufen. Er stellte genaue Berechnungen auf, die bewiesen, daß man viel einsparen kann, wenn man vor nichts zurückschreckt.

SWIFT stellte sich dumm. Er verteidigte eine bestimmte, ihm verhasste Denkungsart mit vielem Feuer und vieler Gründlichkeit in einer Frage, wo ihre ganze Gemeinheit jedermann erkennbar zu Tage trat. Jedermann konnte klüger sein als SWIFT oder wenigstens humaner, besonders der, welcher bisher gewisse Anschauungen nicht auf die Folgerungen untersucht hatte, die sich aus ihnen ergaben.

Die Propaganda für das Denken, auf welchem Gebiet immer sie erfolgt, ist der Sache der Unterdrückten nützlich. Eine solche Propaganda ist seht nötig. Das Denken gilt unter Regierungen, die der Ausbeutung dienen, als niedrig.

Als niedrig gilt, was für die Niedergehaltenen nützlich ist. Niedrig gilt die ständige Sorge um das Sattwerden; das Verschmähen der Ehren, welche den Verteidigern des Landes, in dem sie hungern, in Aussicht gestellt werden; der Zweifel am Führer, wenn er ins Unglück führt; der Widerwille gegen die Arbeit, die ihren Mann nicht nährt; das Aufbegehren gegen den Zwang zu sinnlosem Verhalten; die Gleichgültigkeit gegen die Familie, der das Interesse nichts mehr nützte. Die Hungernden werden beschimpft als Verfressene, die nichts zu verteidigen haben als Feiglinge, die an ihrem Unterdrücker zweifeln, als solche, die an ihrer eigenen Kraft zweifeln, die Lohn für ihre Arbeit haben wollen, als Faulpelze usw. Unter solchen Regierungen gilt das Denken ganz allgemein als niedrig und kommt in Verruf. Es wird nirgends mehr gelehrt und, wo es auftritt, verfolgt.

Dennoch gibt es immer Gebiete, wo man ungestraft auf die Erfolge des Denkens hinweisen kann; das sind diejenigen Gebiete, auf denen die Diktaturen das Denken benötigen. So kann man zum Beispiel die Erfolge des Denkens auf dem Gebiet der Kriegswissenschaft und Technik nachweisen. Auch das Strecken der Wollvorräte durch Organisation und Erfindungen von Ersatzstoffen erfordert Denken. Die Verschlechterung der Nahrungsmittel, die Ausbildung der Jugendlichen für den Krieg, all das erfordert Denken: es kann beschrieben werden. Das Lob des Krieges, des unbedachten Zweckes dieses Denkens, kann listig vermieden werden; so kann das Denken, das aus der Frage kommt, wie man am besten einen Krieg führt, zu der Frage führen, ob dieser Krieg sinnvoll ist und bei der Frage verwendet werden, wie man einen sinnlosen Krieg am besten vermeidet.

Diese Frage kann natürlich schwerlich öffentlich gestellt werden. Kann also das Denken, das man propagiert hat, nicht verwertet, daß heisst eingreifend gestaltet werden? Es kann.

Damit in einer Zeit wie der unsrigen die Unterdrückung, die der Ausbeutung des einen (grösseren) Teils der Bevölkerung durch den (kleineren) anderen Teil dient, möglich bleibt, bedarf es einer ganz bestimmten Grundhaltung der Bevölkerung, die sich auf alle Gebiete erstrecken muss. Eine Entdeckung auf dem Gebiet der Zoologie, wie die des Engländers DARWIN konnte der Ausbeutung plötzlich gefährlich werden; dennoch kümmerte sich eine Zeitlang nur die Kirche um sie, während die Polizei noch nichts merkte. Die Forschungen der Physiker haben in den letzten Jahren zu Folgerungen auf dem Gebiet der Logik geführt, die immerhin eine Reihe von Glaubenssätzen die der Unterdrückung dienen, gefährlich werden konnten.

Der preussische Staatsphilosoph HEGEL beschäftigt mit schwierigen Untersuchungen auf dem Gebiete der Logik, lieferte MARX und LENIN, den Klassikern der proletarischen Revolution, Methoden von unschätzbarem Wert. Die Entwicklung der Wissenschaften erfolgt im Zusammenhang aber ungleichmässig und der Staat ist ausserstande, alles im Auge zu behalten. Die Vorkämpfer der Wahrheit können sich Kampfplätze auswählen, die verhältnismässig unbeobachtet sind. Alles kommt darauf an, daß ein richtiges Denken gelehrt wird, ein Denken, das alle Dinge und Vorgänge nach ihrer vergänglichen und veränderbaren Seite fragt. Die Herrschenden haben eine grosse Abneigung gegen starke Veränderungen. Sie möchten, daß alles so bleibt, am liebsten tausend Jahre.

Am besten der Mond bleibe stehen und die Sonne liefe nicht weiter! Dann bekäme keiner mehr Hunger und wollet zu Abend essen. Wenn sie geschossen haben, soll der Gegner nicht mehr schiessen dürfen, ihr Schuss soll der letzte gewesen sein. Eine Betrachtungsweise, die das Vergängliche besonders hervorhebt, ist ein gutes Mittel, die Unterdrückten zu ermutigen... eh, daß in jedem Ding und in jedem Zustand ein Widerspruch sich meldet und wächst, ist etwas was den Siegern entgegengehalten werden muss. Eine solche Betrachtungsweise (wie der Dialektik, der Lehre vom Fluss der Dinge) kann bei der Untersuchung von Gegenständen eingeübt werden, welche den Herrschenden eine Zeitlang entgehen. Man kann sie in der Biologie oder Chemie anwenden. Aber auch bei der Schilderung der Schicksale einer Familie kann sie eingeübt werden, ohne allzuviel Aufsehen zu erwecken. Die Abhängigkeit jeden Dings von vielen andern; sich ständig ändernden, ist ein den Diktaturen gefährlicher Gedanke, und er kann in vielerlei Arten auftreten, ohne der Polizei eine Handhabe zu bieten.

Eine vollständige Schilderung aller Umstände und Prozesse, von denen ein Mann betroffen wird, der einen Tabakladen aufmacht, kann ein harter Schlag gegen die Diktatur sein. Jeder, der ein wenig nachdenkt, wird finden warum. Die Regierungen, welche die Menschenmassen ins Elend führen, müssen vermeiden, daß im Elend an die Regierung gedacht wird. Sie reden viel vom Schicksal. Dieses, nicht sie, ist am Mangel schuld. Wer nach der Ursache des Mangels forscht, wird verhaftet, bevor er auf die Regierung stösst. Aber es ist möglich, im allgemeinen dem Gerede vom Schicksal entgegenzutreten; man kann zeigen, daß dem Menschen sein Schicksal von Menschen bereitet wird.

Dies kann wieder auf vielfache Art geschehen. Es kann zum Beispiel die Geschichte eines Bauernhofes erzählt werden, etwa eines isländischen Bauernhofes. Das ganze Dorf spricht davon, daß auf diesem Hof ein Fluch liegt. Eine Bäuerin hat sich in den Brunnen gestürzt, ein Bauer hat sich aufgehängt. Eines Tages findet eine Heirat statt, der Sohn des Bauern verheiratet sich mit einem Mädchen, das einige Aecker mit in die Ehe bringt. Der Fluch weicht vom Hof. Das Dorf ist sich in der Beurteilung dieser glücklichen Wendung nicht einig. Die einen schreiben sie der sonnigen Natur des jungen Bauern zu, die andern den Aeckern, die die junge Bäuerin mitgebracht hat und die den Hof erst lebensfähig machen. Aber selbst in einem Gedicht, das eine Landschaft schildert, kann etwas erreicht werden, nämlich wenn der Natur die von Menschen geschaffenen Dinge einverleibt werden.

Es ist List nötig, damit die Wahrheit verbreitet wird.

Zusammenfassung

Die grosse Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, daß unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. Was nützt es da, etwas Mutiges zu schreiben, aus dem hervorgeht, daß der Zustand, in den wir versinken, ein barbarischer ist (was wahr ist), wenn nicht klar ist, warum wir in diesen Zustand geraten? Wir müssen sagen, daß gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen. Freilich, wenn wir dies sagen, verlieren wir viele Freunde, die gegen das Foltern sind, weil sie glauben, die Eigentumsverhältnisse könnten auch ohne Foltern aufrechterhalten bleiben (was unwahr ist).

Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände in unserem Land sagen, daß das getan werden kann, was sie zum Verschwinden bringt, nämlich das, wodurch die Eigentumsverhältnisse geändert werden.

Wir müssen es ferner denen sagen, die unter den Eigentumsverhältnissen am meisten leiden, an ihrer Abänderung das meiste Interesse haben, den Arbeitern und denen, die wir ihnen als Bundesgenossen zuführen können, weil sie eigentlich auch kein Eigentum an Produktionsmitteln besitzen, wenn sie auch an den Gewinnen beteiligt sind.

Und wir müssen, fünftens, mit List vorgehen.

Und alle diese fünf Schwierigkeiten müssen wir zu ein- und derselben Zeit lösen, denn wir können die Wahrheit über barbarische Zustände nicht erforschen, ohne an die zu denken, welche darunter leiden und während wir, immerfort jede Anwandlung von Feigheit abschüttelnd, die wahren Zusammenhänge im Hinblick auf die suchen, die bereit sind, ihre Kenntnis zu benützen, müssen wir auch noch daran denken, ihnen die Wahrheit so zu reichen, daß sie eine Waffe in ihren Händen sein kann und zugleich so listig, daß diese Ueberreichung nicht vom Feind entdeckt und verhindert werden kann.

Soviel wird verlangt, wenn verlangt wird, der Schriftsteller soll die Wahrheit schreiben.