Schmerzmittel im Grundwasser
Jedes Jahr gelangen Tonnen von Medikamenten in die Umwelt - Schäden
bei Tieren sind belegt, die Gefahr für den Menschen ist umstritten
Bei wichtigen Entdeckungen steht gelegentlich der Zufall Pate: Im Jahr 1991
suchten Lebensmittelchemiker der TU Berlin auf dem früheren
Mauergelände am Potsdamer Platz nach Spuren von Pflanzenschutzmitteln.
Damit hatten die DDR-Grenzschützer versucht, Wildwuchs auf dem Todesstreifen
zu verhindern. Bei der Analyse der Proben erwartete die Forscher eine
Überraschung. "Im Chromatogramm tauchte ein Signal auf, das wir nicht
identifizieren konnten", sagt Thomas Heberer, der an der Untersuchung beteiligt
war. Die weitere Untersuchung ergab, dass es sich dabei um Clofibrinsäure
handelte. Sie entsteht, wenn der Körper Medikamente abbaut, die das
Blutfett senken sollen. Damit waren erstmals in Deutschland
Rückstände von Arzneimitteln in der Umwelt nachgewiesen worden.
Der Zufallsfund wies auf ein Problem hin, das jahrzehntelang übergangen
wurde. Was passiert mit all den Medikamenten, die Jahr für Jahr eingenommen
werden?
Arzneimittel und ihre Abbauprodukte sammeln sich in der Umwelt, vor allem
in Gewässern. Deren Belastung untersuchten Forscher aus sieben
europäischen Ländern in dem EU-Forschungsprojekt Poseidon. Resultat
des Abschlussberichts von 2006: Rückstände von Arzneimitteln fanden
die Chemiker nicht nur in Flüssen und Seen, sondern vielerorts auch
im Grund-, vereinzelt sogar im Trinkwasser.
Wie sich diese Stoffe auf die Umwelt auswirken, ist noch immer weitgehend
unklar. Kürzlich bemängelte der Sachverständigenrat für
Umweltfragen "erhebliche Datenlücken". "Diese Schieflage in den Grunddaten"
sei nicht zu akzeptieren, betont das Fachgremium, das die Bundesregierung
berät.
Angesichts der Eigenschaften mancher Stoffe verwundert es, wie lange die
Forschung den weiteren Weg der Arzneien ignoriert hat: Pharmaka wirken nicht
nur im Körper, sie verlassen ihn auch wieder. Einen Teil der Stoffe
scheidet der Körper unverändert aus. Röntgenkontrastmittel
- Jahresverbrauch allein in Berlin: 15 Tonnen - passieren den Körper
fast vollständig. Den Entzündungshemmer Diclofenac, bundesweiter
Jahresumsatz 86 Tonnen, scheidet der Körper zu siebzig Prozent wieder
aus. Vom Anti-epileptikum Carbamazepin, von dem pro Jahr 88 Tonnen verkauft
werden, erreichen dreißig Prozent das Abwasser.
Etwa 3000 Wirkstoffe sind in der Europäischen Union zugelassen. Etwa
31 000 Tonnen Wirkstoffe werden allein in Deutschland pro Jahr verkauft.
Dagegen nehmen sich die jährlich verabreichten 2500 Tonnen Tierarzneimittel
bescheiden aus. Dass 16 bis 20 Prozent der Bundesbürger Arzneimittelreste
regelmäßig in Spüle oder Toilette kippen, fällt angesichts
der Massen, die auf natürlichem Weg in die Kanalisation gelangen, kaum
ins Gewicht.
"In der Kläranlage findet man die gesamte Apotheke", sagt der Koordinator
des Poseidon-Projektes, Thomas Ternes von der Bundesanstalt für
Gewässerkunde. "Röntgenkontrastmittel, Psychopharmaka, Antibiotika,
Schmerzmittel - entweder die Substanzen oder ihre Abbauprodukte." Ein
großer Teil durchläuft die Klärwerke weitgehend ungehindert.
"Die Kläranlagen können den Großteil der Stoffe nicht entfernen",
sagt Ternes. "Dafür wurden sie nicht konzipiert."
Das Sterben der Geier
Zwar lassen sich viele Rückstände mit moderner Technik aus dem
Wasser entfernen. Aber alle Verfahren haben Nachteile: Die sogenannte
Nanofiltration ist extrem teuer, bei der Reinigung mit Aktivkohle fällt
stark kontaminierter Klärschlamm an, und bei der energieaufwändigen
Ozonierung entstehen Nebenprodukte, deren Giftigkeit oft unbekannt ist. Bis
es eine bundesweit flächendeckende Reinigung des Wassers gibt, werden
wohl noch Jahrzehnte vergehen. Bis dahin fließen die Stoffe aus den
Kläranlagen in Oberflächengewässer. Nachgewiesen wurden in
Gewässern bislang etwa 150 Verbindungen, wie Klaus Kümmerer von
der Universität Freiburg berichtet. Dies sei nicht einmal die Hälfte
der Stoffe, die tatsächlich in Gewässern vorkommen, vermutet der
Chemiker.
Flüsse wie der Main transportieren heute Schätzungen zufolge mehr
Arzneistoffe als Pflanzenschutzmittel. Und weil die Stoffe wasserlöslich
sind, haften sie kaum an Sedimenten oder Schwebstoffen. Sie verteilen sich
und gelangen womöglich auch in das Grundwasser, wie das Beispiel Hannover
zeigt.
Dort ließen Behörden im Herbst 2006 an 20 Stellen das Grundwasser
auf Clofibrinsäure, Diclofenac und Ibuprofen sowie auf die Schmerzmittel
Phenazon und Propiphenazon analysieren. Die Substanzen waren schon andernorts
im Grundwasser und vereinzelt im Trinkwasser nachgewiesen worden. An sieben
der 20 Stellen stießen die Forscher auf mindestens einen der Stoffe.
Bundesweit wurden, so Thomas Heberer, bislang 39 Substanzen im Grundwasser
gefunden. Im Trinkwasser einiger Städte stießen Forscher auf 17
Verbindungen - allerdings auch, weil es inzwischen empfindliche Analyseverfahren
gibt, die Stoffe in winzigen Mengen aufspüren. Angesichts der niedrigen
Konzentrationen schätzen Experten das Gesundheitsrisiko für den
Menschen als sehr gering ein.
Dennoch besteht Grund zur Sorge: Wie sich permanenter Kontakt mit den
Rückständen auswirkt, weiß niemand. Unklar ist auch, ob und
wie sich die Wirkstoffe beeinflussen. Kümmerer verweist auf die Gruppe
der Zytostatika. Diese in der Tumortherapie verwendeten Mittel, die das
Zellwachstum hemmen, könnten selbst Krebs verursachen.
Offen ist auch, ob Antibiotika in der Umwelt die Entstehung resistenter Bakterien
fördern. Dies gilt besonders für Kläranlagen, in denen sich
nicht nur hohe Konzentrationen dieser Präparate finden, sondern auch
viele Krankheitserreger. Von den jährlich in Deutschland verkauften
400 Tonnen Antibiotika werden laut Kümmerer 75 Prozent unverändert
wieder ausgeschieden.
"Derzeit reichen die vorliegenden Kenntnisse nicht aus, um eine Gesamtbeurteilung
der möglichen von Arzneimitteln im Abwasser ausgehenden Risiken abzugeben",
antwortete die Bundesregierung Ende Mai auf eine parlamentarische Anfrage
von Bündnis 90/Die Grünen. "Insbesondere liegen zu wenige Daten
über die ökotoxikologischen Wirkungen von Arzneistoffen sowie deren
Verhalten und Verbleib in der Umwelt vor." Kurzum: Es besteht
Forschungsbedarf.
Umweltschäden sind gut dokumentiert, besonders für Diclofenac.
Bei Konzentrationen von 0,5 Mikrogramm pro Liter - in Flüssen anzutreffen
- verursacht der Entzündungshemmer bei Forellen Nierenschäden.
Für Aufsehen sorgte in den vergangenen Jahren ein unerklärliches
Geiersterben in Indien und Pakistan. Die Tiere starben an Nierenversagen.
Wahrscheinliche Ursache: Die Greifvögel hatten tote Rinder und Ziegen
gefressen, die mit Diclofenac behandelt worden waren.
Mit Beunruhigung beobachten Forscher auch die Folgen von Hormonen für
die Umwelt. Während natürliche Sexualhormone rasch abgebaut werden,
ist das in der Anti-Baby-Pille enthaltene Ethinyl-Estradiol (EE) sehr stabil.
"Das kann ewig zirkulieren", sagt Werner Kloas vom Berliner Leibniz-Institut
für Binnenfischerei und Gewässerökologie.
Zwar werden bundesweit pro Jahr nur 50 Kilogramm EE verkauft. Aber das
synthetische Hormon wird wieder vom Körper ausgeschieden und gelangt
über Kläranlagen in Oberflächengewässer. Auf Fische wirkt
es schon bei einem Nanogramm pro Liter. An Ausflüssen von Kläranlagen
liegt die Konzentration laut Kloas um das Zehnfache höher. Solche Werte
wären bei Menschen "ebenfalls biologisch wirksam", sagt der
Experte.
Fische wechseln das Geschlecht
Bei Insekten, Fischen oder Amphibien, ist die Schwelle längst
überschritten. Fische nehmen die Stoffe über die Kiemen auf, Amphibien
während der Larvenphase durch die Haut. Schon bei geringen Mengen werden
die Tiere zwittrig, steril oder sie wechseln das Geschlecht komplett. Erstmals
wurde dies in Großbritannien beobachtet, wo männliche
Regenbogenforellen nahe Kläranlagen Stoffe für die Eidotterproduktion
bildeten. "Inzwischen sind solche Phänomene in allen menschlich
beeinflussten Gewässern nachgewiesen", sagt Kloas.
Aber auch ihn überraschte eine Studie mit dem Wasser des norditalienischen
Lambro, einem Zufluss des Po. Kloas setzte ausgewachsene, sexuell völlig
ausdifferenzierte Frösche in Wasser, das aus dem Fluss stammte. "Nach
vier Wochen hatte ein Drittel der männlichen Frösche Eizellen
entwickelt", sagt der Forscher. "Das hat uns geschockt."
Dass die Hormonlast in einem geschlossenen System eine Art dezimieren kann,
zeigt eine Studie von Forschern der kanadischen Universität New Brunswick.
Die Biologen studierten die Wirkung von Ethinyl-Estradiol an einem entlegenen
Teich der Provinz Ontario an Dickkopf-Elritzen. Schon im ersten Jahr litt
bei männlichen Fischen die Entwicklung der Geschlechtsorgane, bei den
Weibchen wuchsen die Eier zu langsam. Schließlich brach die
Elritzen-Population zusammen und erholte sich auch dann nicht, als die Forscher
das Gewässer verschonten. Die Elritzen waren offenbar besonders empfindlich,
weil sie mit 150 Tagen eine kurze Reproduktionsphase haben. Die Forscher
vermuten in der Fachzeitschrift PNAS (Bd. 104, S. 8897, 2007), dass andere
Fischarten bei längerer Exposition ähnlich reagieren.
Auf das Problem der Arzneimittelrückstände hat die EU inzwischen
reagiert. Seit Dezember 2006 müssen Hersteller neue Medikamente nicht
mehr nur auf Wirkung und Sicherheit, sondern auch auf ihr Umweltverhalten
prüfen. Mangelnde Umweltverträglichkeit ist allerdings kein
Ausschlusskriterium für die Zulassung. Die Studien werden den Forschern
aber nicht automatisch vorgelegt, obwohl sie wertvolle Informationen liefern
könnten. "Wenn wir die hätten, wäre das eine große Hilfe",
sagt Klaus Kümmerer. WALTER WILLEMS
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.201, Samstag, den 01. September 2007