Die Abhängigkeit der Unabhängigen
"Freunde, jetzt ist Zeit zu lärmen": Der Richter- und Staatsanwaltstag
fordert die Politik heraus
Von Heribert Prantl
Seit 1879, also seit 128 Jahren, steht in Paragraph 1 des
Gerichtsverfassungsgesetzes der seitdem nie veränderte Satz: "Die
richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene
Gerichte ausgeübt." Nur dem Gesetz unterworfen? "Schön wär"s":
So kann man das Thema des Deutschen Richter- und Staatsanwaltstags, der heute
in Würzburg beginnt, zusammenfassen. Der Richterbund, in dem sich weit
über die Hälfte der 25000 deutschen Richter und Staatsanwälte
organisieren, klagt darüber, dass die Gerichte der Verwaltung, also
den Justizministerien, unterworfen seien; die Unabhängigkeit der Justiz
werde "zunehmend durch den Einfluss der Exekutive" eingeschränkt. Der
Richtertag, der nur alle vier Jahre stattfindet, versucht daher mit Verve,
die "Selbstverwaltung der Justiz" auf die politische Tagesordnung zu setzen.
Es geht um die organisatorische Unabhängigkeit der Justiz, es geht darum,
deren strukturelle Abhängigkeit von der Ministerialverwaltung zu beenden.
Die Politik wehrt sich bislang gegen solche Forderungen mit deren
Nichtbeachtung.
Die Analyse des Richterbunds ist von lapidarer Schärfe: "Die Gerichte
und Staatsanwaltschaften sind hierarchisch dem Justizminister unterstellt
und befinden sich von der Einstellung und Beförderung (der Richter und
Staatsanwälte) bis hin zur Zuweisung oder Streichung von Haushaltsmitteln
in vielfältiger Abhängigkeit. Den unter Kabinetts- und
Parteizwängen stehenden Justizministern gelingt es nicht mehr, die für
die Sicherstellung des in der Verfassung verankerten
Justizgewährungsanspruchs erforderlichen Mittel zu beschaffen". Viele
Richter und Staatsanwälte betrachten die "Modernisierungsprogramme"
und "neuen Steuerungsmodelle", die ihnen von den Ministerien verpasst werden,
mit Misstrauen; sie haben in den letzten Jahren erfahren, dass sich hinter
wohlklingenden Projekten wie "Evaluation", "Benchmarking", und
"Effizienzsteigerung" vor allem Sparprogramme verbargen.
Es heißt zwar gern, dass die Deutschen rechts- und gerichtsversessen
seien; in den Haushaltsplänen lässt sich dies jedoch nicht ablesen:
Der Rechtsstaat kostet in Deutschland, alles in allem, 50 Euro pro Kopf und
Jahr, das ist auch im europäischen Vergleich ziemlich wenig; in diesem
Betrag ist die gesamte Justiz einschließlich Strafvollzug,
Pflichtverteidigung, Prozesskostenhilfe, Zeugen und Sachverständige
enthalten. In der Justiz herrscht der Eindruck, man werde kaputtgespart -
und die neue Selbstverwaltungs-Verve wird auch von der Überzeugung getragen,
dass es nur besser werden könne. Es wird Zeit, so sagt der neue
Richterbundsvorsitzende Christoph Frank, der ansonsten durchaus kein
revolutionärer Typ ist, dass die deutsche Justiz ihre Aufgaben "in die
eigenen Hände" nehme. So kämpferische Töne hat man von der
dritten Gewalt schon lang nicht mehr gehört. Die Bundesvertreterversammlung
der deutschen Richter und Staatsanwälte hat im April in Potsdam ein
"Zwei-Säulen-Selbstverwaltungsmodell" beschlossen. Die zwei Säulen
heißen "Justizverwaltungsrat" und "Justizwahlausschüsse". Der
Justizverwaltungsrat soll die Verwaltungsfunktionen übernehmen, die
derzeit die Justizministerien für die Justiz ausführen. Das umfasst
die Haushaltsverwaltung genauso wie die Dienstaufsicht. Der Justizverwaltungsrat
soll also künftig das Budget beim Finanzminister anmelden und mit ihm
verhandeln. Bei Nichteinigung soll das Budget dem Parlament zur Entscheidung
vorgelegt werden und der Justizverwaltungsrat im Haushaltsausschuss und im
Parlament Rederecht erhalten.
Der Justizwahlausschuss (in jedem Bundesland einer) soll die letzte Entscheidung
in Personalfragen haben. Er ist, so der Vorschlag, "zur Hälfte mit
gewählten Richtern und/oder Staatsanwälten und zur Hälfte
mit Parlamentariern zu besetzen, die im Verhältnis der Sitzverteilung
der Parteien von den jeweiligen Parlamenten gewählt werden". Dieser
Justizwahlausschuss ist der aufregende Teil der Forderungen - weil er den
ebenso bösen wie wahren Satz konterkariert, den der preußische
Justizminister Gerhard Adolf Leonhardt schon vor 130 Jahren gesagt hat: "Solange
ich über die Beförderungen bestimmen kann, bin ich gern bereit,
den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren."
Als 1949 die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Richter ins
Grundgesetz geschrieben wurden, änderte sich an diesem Grundprinzip
nichts. "Wie aber soll ein Richter unabhängig sein, der sein ganzes
Leben lang hinsichtlich der Beförderung in Aufrückestellungen von
der Exekutive abhängt? Die richterliche Unabhängigkeit ist eine
verlogene Angelegenheit, solange dieses System besteht." So empörte
sich Paulus von Husen, Präsident des Verfassungsgerichtshofs
Nordrhein-Westfalen im Jahr 1952. Später war es Verfassungsrichter
Ernst-Wolfgang Bockenförde, der die Richterbestellung durch die Exekutive
als undemokratisch bezeichnete. Juristentage haben das Problem hin und her
gedreht, zuletzt im Jahr 2002; dort sprach Lore Peschel-Gutzeit, die
frühere Justizsenatorin von Hamburg und Berlin, von der "absoluten
Notwendigkeit", die Justiz "endlich von ministerieller Weisung zu emanzipieren".
Geändert hat sich nichts.
In den Empfehlungen des Europarats und den Kriterien der EU für die
Aufnahme neuer Mitgliedsländer heißt es freilich: "Die für
die Auswahl und Laufbahn der Richter zuständige Behörde sollte
von der Exekutive unabhängig sein." Das ist so in Frankreich, Italien,
Spanien, Norwegen, Dänemark und den Niederlanden. Der Richterbund-Chef
Frank verweist daher darauf, dass das, was er fordert, "in Europa bereits
selbstverständlicher rechtlicher Standard" sei. Einen so großen
Feldzug für Unabhängigkeit haben Richter in Deutschland zuletzt
vor 130, 140 Jahren geführt. Damals stritten sie mit Bismarck wegen
Manipulationen bei der Besetzung von Richterstellen. Carl Tewens, Stadtrichter
in Berlin, ließ Flugblätter drucken mit dem Titel: "Freunde, jetzt
ist Zeit zu lärmen".
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.214, Montag, den 17. September 2007