Der Schuß

Opus 060/ 1974

 

Naunynstrasse 20, Abbruchhaus, Keller voll Müll und Ratten, Wanzen, wir teilten uns die Wohnung mit einem Rentnerpaar, wir waren die letzten Deutschen im Haus, sonst wohnten nur Türken dort, viele Streitigkeiten unter ihnen, einmal geschah eine Bluttat vor unserer Tür, einmal ein Mord im Nebenhaus, dann ein Fenstersturz eines jungen Türken, eine verrückte deutsche Frau wurde gewaltsam entführt usw. Demonstrationszüge und Polizeieinsätze in der Straße, um die Ecke wurde ein Student erschossen, dann standen nachts auf einmal bei uns bewaffnete Polizisten im Zimmer....

 

Es war in Kreuzberg, nachts gegen Zwei

wir schliefen friedlich,  ich und mein Wei.

Das Fenster zur Straße stand offen wie immer,

da standen plötzlich zwei Bullen im Zimmer.

Das Licht ihrer Lampen blendete grell,

ich sprang aus dem Bett ziemlich schnell.

 

Schlaftrunken fragte ich, was denn dies soll,

Hausfriedensbruch nennt man das wohl.

Ich glaub gar, ich träume nen schrecklichen Traum,

und reib mir die Augen, Spaß ist das kaum.

Dann werd ich gefragt, ob ich grad geschossen,

gegenüber ins Fenster.... Was sind das für Possen!

 

Es wär nur Routine, wir sollten verstehn,

unser offenes Fenster hätt ne Frau gesehn,

von hier könnt der Schuß gefallen sein,

im anderen Fall solln wir das Eindringen verzeihn.

Man wolle die Wohnung nur kurz kontrollieren

und wir sollten uns deswegen nicht so zieren.

 

Ich stand da, ganz nackig, verschlafen und blaß

und fing an zu zittern, das war ja kein Spaß.

Ich sagte: "Sie finden kein Blasrohr bei mir.

Ich hasse Gewehre, deswegen bin ich hier!

Um nicht schießen zu müssen, bin ich in Berlin!"

Ach, am liebsten hätte ich laut geschrien!

 

"Suchen Sie nur, es hat keinen Zweck!

Wir haben nur Bücher und ne Gitarre im Eck

Schallplatten, Bilder, ein Tonbandgerät,

doch kein Apparat, der zum Schießen geht!"

Die Beamten hatten sich schnell überzeugt

und unsere Siebensachen beäugt.

 

Immerhin, sie sprachen uns ihr Bedauern aus,

doch der Schuß sei nun gefallen aus unserem Haus.

Sie verschwanden so schnell wie sie gekommen,

und ließen zurück uns, ziemlich beklommen.

Mit Schlafen war nichts mehr, wir sahen uns an

und dachten, wie schnell was passieren kann.

 

Und als ich dann morgens schau aus dem Fenster,

da keift eine Frau: „Seht da oben den Gangster!

Der hat geschossen, wer hats gesehn?“

Da wars endgültig um meine Ruhe geschehn.

Ich ging zu der Frau hinüber erregt

und hab ihr meine Unschuld dargelegt.

 

„Aber ihr Fenster stand offen! Ist das kein Beweis?“

„Wir pflegen zu lüften, die Nächte sind heiß.“

Und: „ Ein Schütze läßt sein Fenster wohl kaum offen stehn..“,

das hat die Frau schließlich eingesehn.

Sie zeigte mir dann noch das Projektil

im Plafond bei den Kindern, ein makaberes Ziel.

 

„Liebe Frau, ich versteh ihre Erregung sehr gut,

doch eine falsche Anklage bringt mich in Wut.

Ein Gewehr schießt bekanntlich nicht um die Ecke

und wo muß wer stehen, um zu treffen ihre Decke?

Tiefer, genau! Doch ich wohn über ihnen!

Ist ihnen das nicht merkwürdig erschienen?“

 

Der Frau tats nun leid, sie wurd freundlich und nett.

Ich ging wieder heim und kroch in mein Bett.

Es ist ein Kreuz mit den Zeitgenossen,

das Leben ist voller Dummheit und Possen.

Und manchmal, wenns dumm läuft, ganz schnell

gilt ein Unschuldiger als kriminell.